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Da sitzen sie jetzt, trinken billigen Wein und noch billigeren Vodka mit Geschmack. Reden über Drogen und darüber, wer wem in welchen Zuständen wirklich über den Weg traut (was das Anmachen der gegnerischen Freundin betrifft). Auch rauchen sie Vape, blasen also Erdbeersalven in das zum Glück gut klimatisierte Zugabteil, in dem auch ihr ehemaliger Lehrer – vielleicht ein Referendar – sitzt und sich nicht zuständig fühlt, ihnen die Grenzen und Regeln dieses öffentlichen Raumes zu erklären. Nur leise sollen sie sein, dann dürfen sie sich setzen. Und während sie so ihre Halbstarken-Sätze schnalzen und zum nächsten Dorffest reisen, bin ich überlegt zu handeln, etwas zu sagen, ja, den Erwachsenen in diesem Abteil zu geben, weil es sonst keiner tut. 


Dabei sitzen da einige, aber sie sind in Arbeit vertieft an diesem Freitagabend, oder blicken demonstrativ weg, ob aus Angst, Scham oder Betroffenheit einer auch durch sie nicht ganz geglückten Erziehung, wer weiß… . Sprachlich ist das Ganze natürlich hochinteressant, auch wenn die Mehrheit der Reisenden wohl eher geneigt wäre zu sagen: unterirdisch. Denn natürlich gibt es einen Tschick in der Runde, wie ihn Herrndorf erfand, einen, der keine Zähne hat, wie ihm sein vermutlich österreichischer Topfdeckelhaarschnitt-Freund vor versammelter Mannschaft in bewusst coolem Habibi-Ton unter die Nase reibt: Bruder, du hast kein Zähne, also laber kein. Wer hat sich da wem angepasst? Die ganze Rasselbande Tschick oder dieser Tschick der Bande? Jedenfalls redet der sprachlich emigrierte Trupp mit seinen beiden Mädchen so, als kämen sie nicht von hier. Nicht aus Kapfenberg, wo sie einstiegen. Ich schließe auf die Musik und den Cloud- oder Gangster-Rap, den sie wahrscheinlich allesamt hören, im Zweifel auch auf TikTok.


Der verbale Schlag ins Gebiss von Tschick mit den wenigen Zähnen sitzt natürlich und trifft ihn tiefer als gewohnt. Dafür kann er Englisch, was er der Gruppe seiner Freunde mit dem erwachsenen und am Laptop arbeitenden Sitznachbarn unter Beweis stellt. Das where are you from geht ihm gut von den Lippen, dafür braucht er keine Zähne, die er natürlich hat, aber das zählt nicht. Denn vereinzelt treibt es den Karies doch sehr dunkel durch sein Maul. Aber das passt ja, denn wieder wirft der Topfdeckel ein, dass er doch erzählen soll, wie er zu seinem guten Englisch gekommen ist, im Knast sei er nämlich schon gewesen, der Tschick. Klar, denke ich, das passt, der Tschick trinkt und schlägt sich eben gern. 


Und so sitzt dieses kleine, aufmüpfige Gespann von der sie umgebenden Aura der Unbesiegbarkeit in unserem Abteil und verhält sich kaum anders als Menschen, die zum Fußballspiel oder zum Volksfest fahren, oder den Vatertag mit Leiterwagen und Bierkisten begießen. Denn auch die brechen mit den Regeln des gesitteten Zusammenseins, vapen vielleicht nicht im Zug, aber trinken oft noch deutlich mehr Bier und Wein als diese Kleinen, und reden auch kein Stück gescheiter daher. Deshalb halte ich mich zurück, springe nicht auf wie ein übereifriger Lehrer, der noch die Freizeit dieser sich im Alter der absoluten Unbelehrbarkeit Befindlichen zurechtstutzen will. Stattdessen beobachte ich nur und staune über den jugendlichen Leichtsinn mit all seiner Dreistigkeit und Raumeinnahme, verfolge den Erdbeernebel, wundere mich über die Täuschung meiner Nase und den Geschmack auf meiner Zunge, den er hinterlässt – und erlebe, dass ich tatsächlich Lust auf Erdbeeren bekomme.


Trotzdem würde ich ihnen gern das kleine Dampfwunder aus den Händen reißen und zum Fenster rausschmeißen, aber ich tue es nicht, denke es nur kurz, denn so erzieht man kein Kinder, und die 10 Euro, die ich ihnen als Ersatz bieten müsste, habe ich nicht auf Tasche. Mit einem Geldschein könnte ich eine solche Erwachsenenentgleisung entschuldigen und moralapostolisch hinterherwerfen: Hier, und jetzt kauft euch was gescheites davon, ein Erdbeereis vielleicht, ein Buch oder von mir aus auch zwei Kebabs! Und Schluss wäre mit dieser unerhörten Zugfahrt...


Ich bin ein einfacher Mann, sagte er sich auf dem Heimweg, einer, der im Regen davonläuft, lieber davonläuft, als reinzugehen und dazubleiben, wo sie wahrscheinlich noch immer im Trockenen sitzt und sich beraten lässt oder vorstellen muss, Bericht geben womöglich, das heißt: Einblick in die Dürreperiode eines Künstlerlebens als Schauspielerin, in dem trotz Schönheit, ja, großer Schönheit und echter Ausstrahlung, er sah es in ihren Augen, derzeit kein Engagement in greifbarer Nähe ist. Wie er saß sie deshalb da und wartete auf Beratung, auf Jobs und Stellen, die man ihr vorschlägt, damit sie sie rausholen aus der Ungewissheit und den Fragen, die sich beide stellen, dauernd stellen sie sich diese Fragen, weil niemand nach ihnen greift und sie will oder braucht oder anstellt und engagiert. Nutzen hätte er sie sollen, die Gelegenheit neben ihr, in der nur ein Stuhl zwischen ihnen stand, auf den er seine Tasche legte, in der Bernhard lag und sein Notizheft. Stattdessen saß er nur da, hielt sich den schweren und schmerzenden Kopf, der sich von viel Alkohol und einer chronisch vollen Nase nach nur wenigen Stunden Schlaf selbstverständlich noch nicht erholt hatte und deshalb weiß Gott nicht auf ihrer Höhe war, obwohl er den ihren auch im Sitzen um zwei Längen überragte. Sie hielt ihm sogar die Türe auf, bevor sie das Büro betrat, stellte sich vor ihm der Dame am Empfand vor, hieß Moore, so wie gute Schauspielerinnen eben heißen, dachte er sich, und hielt doch sein Maul. Nach ihr sprach er vor, sagte brav seinen Namen auf, der ihm noch einfiel, und nahm Platz mit einem Stuhl Abstand. Sie trug die gleichen Schuhe wie er, fiel ihm auf, fast wollt er das zum Auftakt sagen, und hielt doch schon wieder sein Maul, aus dem es nicht gut roch, weil er nur wenige Stunden Schlaf in den Knochen hatte und auch im Mund Knochen sind, die müde sein und deshalb schlecht riechen müssen, dachte er sich. Ungewaschen und mit Brille verkleidet saß er also da, wagte nur ein paar schüchterne Blicke, sagte natürlich nichts, nur dann, als er aufgerufen wurde und den Raum verlassen musste, um sich beraten zu lassen. Als er wieder rauskam, saß sie noch immer da, wurde anscheinend selbst noch nicht beraten, wer berät denn so ein schönes Wesen nicht, dachte er, und sprach selbstverständlich auch dann keinen seiner zumindest schön gedachten Sätze aus. Der Dame am Empfang wünschte er beim Verabschieden mit letzter Kraft ein schönes Wochenende, das schaffte er, obwohl sie zu keiner Sekunde seine echte und ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, denn die lag unverändert hinter ihm, in der Schauspielerin, die er durch die Rückwand seines schmerzenden Schädels sah, wo sie ihm die Augen verdrehte, aber nichts davon mitbekam, weil sein Blick stur geradeaus gerichtet war und sich lediglich beim Verlassen des Büros halbherzig in ihre Richtung drehte. Und dann, fast erschrak er, trafen ihre auch ein bisschen zu müden Augen auf die seinen und ihre Lippen flüsterten leise aber hörbar Ciao, auf Wiedersehen auf Italienisch, und das an einem Freitagvormittag in Österreich, in Wien, worauf ihm, wir vermuten, befürchten und wissen es schon, auch jetzt kein Buchstabe einfiel, auch kein deutscher, den er ihren Lippen als Bekenntnis für seine schon beim Eintreten dagewesene Zuneigung entgegenwarf. Und so bleibt er ein einfacher Mann, der vieles, man mag es glauben, nur niemals wirklich etwas sagen kann, weder Ciao oder Tschüss, auch nicht Adieu und schon gar nicht: Hallo, schöne Frau, sind sie allein, sind wir schon zwei.

  • 12. Nov. 2024

Im Zug eine abgesperrte Toilette, kein Gang möglich, der Lokführer gibt über die Notfalltaste Antwort und schlägt der Gruppe nervös wartender, junger Frauen das Aussteigen vor, die Frauen verneinen, weil sie dann auf den nächsten Zug warten müssten und es kalt draußen ist, an der Station standen sie bereits, als Ersatzverkehr geplant und tatsächlich angekündigt war, aber kein Bus kam, stattdessen warteten ungefähr 100 - 200 Menschen bei Nebel im Kalten, wo Autos abgesperrt auf einem fast leeren Parkplatz standen und nicht abgeholt wurden. Eines fährt vorbei, der einzig warme Ort mit ein paar warmen Menschen in seinem Inneren; fährt also an vielen kalten Menschen vorbei, die sich kaum bewegen und nur noch warten. Schutzlos und ausgesetzt, tatsächlich ausgesetzt von einem Zug, der nicht weiterfahren kann, weil sich womöglich jemand vor einen anderen geworfen hat, oder sich und sein Auto, wer weiß, wir wissen es nicht, wir müssen nur warten. Ein Mann, ein verrückter Besoffener, unterhält die kalten Stummen, sie können nicht lachen, nicht mehr reagieren, weil all ihre Energie in die Produktion eigener Wärme und nicht heißer Luft fließt. Keiner dieser Menschenreaktoren reagiert mehr anders oder individuell, stattdessen machen sie alle das gleiche: sie warten und schieben die Lösung dieser unverschuldeten Lage vor sich her wie das Eis seine zerrissenen Schollen. Was kann man hier schon wollen oder machen? Nichts, weil man ihnen gesagt hat, dass jemand anderes Schuld sei, ein Rettungseinsatz nämlich, er sei der Grund, weshalb man nicht weiterfahren könne und jetzt warten müsse. Aussteigen mussten sie deshalb, raus in die nebelige Station an deren Seite ein spärlich beleuchteter Parkplatz grenzt. Da sollen Busse kommen, aber sie kommen nicht. Eine halbe Stunde lang kommen keine Busse, dann noch eine und dann sind noch immer keine Busse in Sicht. Und der Zug, der sie in diese Lage brachte und dann wegfuhr, zurück nämlich zum Ausgangspunkt nur wenige Stationen entfernt zurück und doch weit genug vom Hauptbahnhof weg, sodass man nicht laufen kann, weil es zu weit ist, und selbst mit einem der Autos, die hier abgesperrt am Parkplatz stehen, wäre man eine halbe Stunde unterwegs, nur um zurückzukommen, wo man schon war und es vermutlich wärmer hatte als hier, dieser Zug jedenfalls, der kommt jetzt wieder und nimmt ein paar Kalte in seine Wärme auf, bringt sie dann aber auch nicht weiter, sondern abermals zurück nach Bratislava, wo er herkam. Dort wartet er dann, Menschen steigen aus, gehen zurück in die Halle des Hauptbahnhofs, die sie eigentlich nicht mehr sehen wollten, zumindest nicht für ein paar Tage oder Wochen, jetzt aber nach viel zu kurzer Zwischenzeit wiedersehen, ohne mehr Ereignisse als eine unterbrochene Reise und das Warten an einem leeren Parkplatz zwei Stationen näher am eigentlichen Ziel gesammelt zu haben, weshalb sie die Halle auch satt haben, zumal ihnen kalt ist und sie eine Stunde im kalten Standen ohne ihr Ziel erreicht zu haben. Jetzt sind sie also wieder da in der Bahnhofshalle, aber auch hier warten keine Busse vor der Tür, nur Taxis, die aber niemand haben will, weil eine Fahrt nach Wien viel zu weit ist und viel zu viel kostet. Eine Gruppe Menschen hat sich in der Kälte von vorher wohl organisiert und besteigt dann doch eines dieser nun besetzten Autos, ich höre noch Vienna aus dem Taxi rufen und weg sind sie. Ein andere Gruppe Ratloser schleppt sich zurück in die Bahnhofshalle, sogar zurück in den Zug, der sie erst weg und dann wieder hergebracht hat, in den steigen sie scheinbar freiwillig nochmal und dann erfüllt er sein Versprechen tatsächlich, fährt also weg und schafft es sogar zwei Stationen weit, genau wie vorher, bleibt dann aber erneut stehen, weil da noch immer ein paar Tapfere warten, die vorher nicht mitwollten, jetzt aber nicht mehr anders können als einzusteigen. Kein Bus kam, erzählen sie, kein Ersatzverkehr wurde eingerichtet, wie versprochen, ein paar Kalte wurden deshalb noch kälter und kamen dann ganz kalt zurück in den Zug, der sie vorher hinauswarf und jetzt wieder aufnimmt. Sie sind ihm nicht böse, nicht einmal dem Lokführer sind sie böse. Über den Notknopf wollen ein paar kalte Frauen nur noch eines in diesem warmen Zug, nämlich sich erleichtern. Aber die Toilette ist versperrt und der hin und her irrende Lokführer darf seinen Platz nicht verlassen, nicht jetzt, wo es doch endlich weitergeht in die richtige Richtung. Sein Posten ist jetzt wichtiger denn je und die Toilette doch bitte kein Notfall! Die einzige Option sei das Aussteigen und Warten an einem sicher ähnlich kalten Ort wie dem, der sie so lange mit kalter Luft auf die Folter spannte. Denn natürlich konnten sie draußen nicht, weil es zu kalt war fürs Hocken und warmes Wasser Lassen. Selbst im Stehen war es kalt, weshalb Einzelgänger einsam gingen und ihre Runde drehen mussten und Reisegruppen dicht zusammenstanden wie gut organisierte Pinguine, mit dem Unterschied trotzdem frieren zu müssen, weil eine Menschenkolonie mehr braucht als körperliche Wärme und ein Parkplatz nichts bieten kann, grundsätzlich nichts bieten kann, nicht einmal Platz, weil der ja auch ohne ihn schon da war, nur nicht zwangsläufig für Menschen. Und Autos bringen auch nichts, wenn sie versperrt sind. Kurz will man sie knacken, weil sie so viel mehr versprechen als ein Zug, der nicht ausweichen kann. Entreißt man dem Zug die Schiene gerät er aus der Bahn, wie man so sagt, und wirft Menschen auf die Straße. Nur für genau die fehlt ihnen heute der Schlüssel, weshalb alles Menschengemachte plötzlich ganz feindlich wird und aber auch die Natur, die sich mit Kälte und Nebel bei uns einschleicht, auch sie ist zum Feind geworden. Und dann kommen Urinstinkte auf und treten selbst in der Nacht zu Tage, glasklar tritt es einem in einer kalten Nacht vor die vor Kälte tränenden Augen und es dämmert dem benebelten Geist, dass etwas getan werden muss, um die Hilflosigkeit zu beenden, das heißt, Kontrolle über eine Reise wiederzuerlangen, die man vor Antritt bewusst aus der Hand gegeben hat, weil man auf Pläne, Maschinen und Menschen mit ihren Schienen, die behaupten, Reisen ginge ohne Sorgen, vertraut und mit bester Absicht eben auch gesetzt hat. Aber wer das Steuer abgibt, drückt sich vor der eigentlichen Verantwortung, die jede Reise mit sich bringt; der reist dann zwar mit gutem Gewissen, aber eigentlich auch das nicht. Denn je mehr Menschen beim Reisen zusammenkommen, umso schwieriger gestaltet sich das Vorhaben pünktlich und richtig dort anzukommen, wo man hin will. Genauer betrachtet ist die gemeinsame Reise die vielleicht sogar einzige Naturgewalt, die wir fürchten müssen. Sie ist die Mutter der Verspätung und der Vater der Zerstörung, nicht nur der Natur, sondern auch unserer tiefsten Instinkte und Fähigkeiten. Sie macht abhängig und sogar süchtig, weshalb wir fliegen und fahren, jetten und in fremden Betten liegen, ja und sogar auf Gleisen gleiten wie die Irren, nur um gemeinsam mit lauter Gefühlskalten an Orten zu stehen, die wir erst zu solchen manchen mussten, Parkplätze für abgeschlossene Autos etwa. Statt also mit ein paar wenigen warmen und deshalb uns wichtigen Menschen potenziell überall zu sein, weil das Heim und die Wärme und die Freunde mitfahren und immer dabei sind in einem dieser individuellsten aller Fortbewegungsmittel, dem Auto, legen wir unser Schicksal in unendlich viele uns so gut wie immer fremdbleibende Hände, in die wir dann auch noch zu allem Überfluss tatsächlich Vertrauen legen! Es ist im Grunde kaum zu fassen, wie viel und wie gerne man vertraut, in diesen großen Reiseapparat, und genau deshalb fragen diese jungen Frauen, die nicht auf die Toilette gehen dürfen, ganz richtig, wieso wir nicht anhalten, nicht ein einziges Mal kurz anhalten, innehalten und stehenbleiben können, sondern immer weiter müssen, auch mit Verspätung, Hauptsache nur weiter, weiter, und wenn der Reiter fällt, dann schreit keiner, weil wir ja in Horden reisen, was macht da schon einer, wie ich, der ich nicht mehr angewiesen sein will auf Pläne und Menschen, so viele Pläne und Menschen, dass ich mich fragen muss: ist denn nicht alles Reisen reinster Überfluss und längst schon ganz gewaltig aus der Bahn geraten?


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