Kein Notfall
- moritzweinstock
- 12. Nov. 2024
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Juli
Im Zug eine abgesperrte Toilette, kein Gang möglich, der Lokführer gibt über die Notfalltaste Antwort und schlägt der Gruppe nervös wartender, junger Frauen das Aussteigen vor, die Frauen verneinen, weil sie dann auf den nächsten Zug warten müssten und es kalt draußen ist, an der Station standen sie bereits, als Ersatzverkehr geplant und tatsächlich angekündigt war, aber kein Bus kam, stattdessen warteten ungefähr 100 - 200 Menschen bei Nebel im Kalten, wo Autos abgesperrt auf einem fast leeren Parkplatz standen und nicht abgeholt wurden. Eines fährt vorbei, der einzig warme Ort mit ein paar warmen Menschen in seinem Inneren; fährt also an vielen kalten Menschen vorbei, die sich kaum bewegen und nur noch warten. Schutzlos und ausgesetzt, tatsächlich ausgesetzt von einem Zug, der nicht weiterfahren kann, weil sich womöglich jemand vor einen anderen geworfen hat, oder sich und sein Auto, wer weiß, wir wissen es nicht, wir müssen nur warten. Ein Mann, ein verrückter Besoffener, unterhält die kalten Stummen, sie können nicht lachen, nicht mehr reagieren, weil all ihre Energie in die Produktion eigener Wärme und nicht heißer Luft fließt. Keiner dieser Menschenreaktoren reagiert mehr anders oder individuell, stattdessen machen sie alle das gleiche: sie warten und schieben die Lösung dieser unverschuldeten Lage vor sich her wie das Eis seine zerrissenen Schollen. Was kann man hier schon wollen oder machen? Nichts, weil man ihnen gesagt hat, dass jemand anderes Schuld sei, ein Rettungseinsatz nämlich, er sei der Grund, weshalb man nicht weiterfahren könne und jetzt warten müsse. Aussteigen mussten sie deshalb, raus in die nebelige Station an deren Seite ein spärlich beleuchteter Parkplatz grenzt. Da sollen Busse kommen, aber sie kommen nicht. Eine halbe Stunde lang kommen keine Busse, dann noch eine und dann sind noch immer keine Busse in Sicht. Und der Zug, der sie in diese Lage brachte und dann wegfuhr, zurück nämlich zum Ausgangspunkt nur wenige Stationen entfernt zurück und doch weit genug vom Hauptbahnhof weg, sodass man nicht laufen kann, weil es zu weit ist, und selbst mit einem der Autos, die hier abgesperrt am Parkplatz stehen, wäre man eine halbe Stunde unterwegs, nur um zurückzukommen, wo man schon war und es vermutlich wärmer hatte als hier, dieser Zug jedenfalls, der kommt jetzt wieder und nimmt ein paar Kalte in seine Wärme auf, bringt sie dann aber auch nicht weiter, sondern abermals zurück nach Bratislava, wo er herkam. Dort wartet er dann, Menschen steigen aus, gehen zurück in die Halle des Hauptbahnhofs, die sie eigentlich nicht mehr sehen wollten, zumindest nicht für ein paar Tage oder Wochen, jetzt aber nach viel zu kurzer Zwischenzeit wiedersehen, ohne mehr Ereignisse als eine unterbrochene Reise und das Warten an einem leeren Parkplatz zwei Stationen näher am eigentlichen Ziel gesammelt zu haben, weshalb sie die Halle auch satt haben, zumal ihnen kalt ist und sie eine Stunde im kalten Standen ohne ihr Ziel erreicht zu haben. Jetzt sind sie also wieder da in der Bahnhofshalle, aber auch hier warten keine Busse vor der Tür, nur Taxis, die aber niemand haben will, weil eine Fahrt nach Wien viel zu weit ist und viel zu viel kostet. Eine Gruppe Menschen hat sich in der Kälte von vorher wohl organisiert und besteigt dann doch eines dieser nun besetzten Autos, ich höre noch Vienna aus dem Taxi rufen und weg sind sie. Ein andere Gruppe Ratloser schleppt sich zurück in die Bahnhofshalle, sogar zurück in den Zug, der sie erst weg und dann wieder hergebracht hat, in den steigen sie scheinbar freiwillig nochmal und dann erfüllt er sein Versprechen tatsächlich, fährt also weg und schafft es sogar zwei Stationen weit, genau wie vorher, bleibt dann aber erneut stehen, weil da noch immer ein paar Tapfere warten, die vorher nicht mitwollten, jetzt aber nicht mehr anders können als einzusteigen. Kein Bus kam, erzählen sie, kein Ersatzverkehr wurde eingerichtet, wie versprochen, ein paar Kalte wurden deshalb noch kälter und kamen dann ganz kalt zurück in den Zug, der sie vorher hinauswarf und jetzt wieder aufnimmt. Sie sind ihm nicht böse, nicht einmal dem Lokführer sind sie böse. Über den Notknopf wollen ein paar kalte Frauen nur noch eines in diesem warmen Zug, nämlich sich erleichtern. Aber die Toilette ist versperrt und der hin und her irrende Lokführer darf seinen Platz nicht verlassen, nicht jetzt, wo es doch endlich weitergeht in die richtige Richtung. Sein Posten ist jetzt wichtiger denn je und die Toilette doch bitte kein Notfall! Die einzige Option sei das Aussteigen und Warten an einem sicher ähnlich kalten Ort wie dem, der sie so lange mit kalter Luft auf die Folter spannte. Denn natürlich konnten sie draußen nicht, weil es zu kalt war fürs Hocken und warmes Wasser Lassen. Selbst im Stehen war es kalt, weshalb Einzelgänger einsam gingen und ihre Runde drehen mussten und Reisegruppen dicht zusammenstanden wie gut organisierte Pinguine, mit dem Unterschied trotzdem frieren zu müssen, weil eine Menschenkolonie mehr braucht als körperliche Wärme und ein Parkplatz nichts bieten kann, grundsätzlich nichts bieten kann, nicht einmal Platz, weil der ja auch ohne ihn schon da war, nur nicht zwangsläufig für Menschen. Und Autos bringen auch nichts, wenn sie versperrt sind. Kurz will man sie knacken, weil sie so viel mehr versprechen als ein Zug, der nicht ausweichen kann. Entreißt man dem Zug die Schiene gerät er aus der Bahn, wie man so sagt, und wirft Menschen auf die Straße. Nur für genau die fehlt ihnen heute der Schlüssel, weshalb alles Menschengemachte plötzlich ganz feindlich wird und aber auch die Natur, die sich mit Kälte und Nebel bei uns einschleicht, auch sie ist zum Feind geworden. Und dann kommen Urinstinkte auf und treten selbst in der Nacht zu Tage, glasklar tritt es einem in einer kalten Nacht vor die vor Kälte tränenden Augen und es dämmert dem benebelten Geist, dass etwas getan werden muss, um die Hilflosigkeit zu beenden, das heißt, Kontrolle über eine Reise wiederzuerlangen, die man vor Antritt bewusst aus der Hand gegeben hat, weil man auf Pläne, Maschinen und Menschen mit ihren Schienen, die behaupten, Reisen ginge ohne Sorgen, vertraut und mit bester Absicht eben auch gesetzt hat. Aber wer das Steuer abgibt, drückt sich vor der eigentlichen Verantwortung, die jede Reise mit sich bringt; der reist dann zwar mit gutem Gewissen, aber eigentlich auch das nicht. Denn je mehr Menschen beim Reisen zusammenkommen, umso schwieriger gestaltet sich das Vorhaben pünktlich und richtig dort anzukommen, wo man hin will. Genauer betrachtet ist die gemeinsame Reise die vielleicht sogar einzige Naturgewalt, die wir fürchten müssen. Sie ist die Mutter der Verspätung und der Vater der Zerstörung, nicht nur der Natur, sondern auch unserer tiefsten Instinkte und Fähigkeiten. Sie macht abhängig und sogar süchtig, weshalb wir fliegen und fahren, jetten und in fremden Betten liegen, ja und sogar auf Gleisen gleiten wie die Irren, nur um gemeinsam mit lauter Gefühlskalten an Orten zu stehen, die wir erst zu solchen manchen mussten, Parkplätze für abgeschlossene Autos etwa. Statt also mit ein paar wenigen warmen und deshalb uns wichtigen Menschen potenziell überall zu sein, weil das Heim und die Wärme und die Freunde mitfahren und immer dabei sind in einem dieser individuellsten aller Fortbewegungsmittel, dem Auto, legen wir unser Schicksal in unendlich viele uns so gut wie immer fremdbleibende Hände, in die wir dann auch noch zu allem Überfluss tatsächlich Vertrauen legen! Es ist im Grunde kaum zu fassen, wie viel und wie gerne man vertraut, in diesen großen Reiseapparat, und genau deshalb fragen diese jungen Frauen, die nicht auf die Toilette gehen dürfen, ganz richtig, wieso wir nicht anhalten, nicht ein einziges Mal kurz anhalten, innehalten und stehenbleiben können, sondern immer weiter müssen, auch mit Verspätung, Hauptsache nur weiter, weiter, und wenn der Reiter fällt, dann schreit keiner, weil wir ja in Horden reisen, was macht da schon einer, wie ich, der ich nicht mehr angewiesen sein will auf Pläne und Menschen, so viele Pläne und Menschen, dass ich mich fragen muss: ist denn nicht alles Reisen reinster Überfluss und längst schon ganz gewaltig aus der Bahn geraten?