Wer steht, verliert
- moritzweinstock
- 30. Mai 2024
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Nov. 2024
Gemischte Toilette, Brackwasser. Mann geht rein, Frau will raus und warnt ihn dabei, weil sie Vorsprung hat, mit den Worten: »Nicht erschrecken!«. »Fast nicht passiert«, quetscht er noch schnell zwischen Tür und Angel und seine Lippen, schaut dazu blöd, und zuckt dann im Inneren zusammen. Das WC ist um Wesentliches erweitert, von dem er sogleich Gebrauch macht, zum Beispiel dem Vergrößerungsspiegel. Dort, wo sie sich vermutlich das Gesicht tupfte, wundert er sich über die Größe seiner Nase. Rechts vom Spiegel entdeckt er Geräte in einem goldenen Becher. Eine Pinzette etwa und brav verpackte Ohrenstäbe. Kurz zögert er, dann zupft er sich betont genussvoll erste Borsten aus den Höhlen. Überlange, seildicke und schwer zu greifende Fäden treiben ihm zunächst Tränen in die Augen, dann ein Schmunzeln ins Gesicht. Schon liegen die Ersten am Beckenboden, wie an den Spitzen leicht ergraute und in die Monate gekommene Würmer. Der Beckenboden – an ihn hat er heute auch schon gedacht, kürzlich erst, vor wenigen Minuten, als er sich mit angespannter Leistengegend den Weg hier hoch, in neues Terrain erkämpfen musste, und dabei fast ein paar Tropfen verlor. Jetzt eilt gar nichts mehr, denn der sichere Keramikhafen liegt in unmittelbarer Nähe. Da lässt sich gut leben, vor dem Hochaltar der Körperpflege! Ein Tamponeimer steht auch bereit, er sieht ihn durch die offene Tür. Aber er bleibt unberührt; ob etwas drin ist, will er nicht wissen, denn seine Neugier gilt nur ihm selbst.
Still, dieser Ort, denkt er. Das sagt man ja immer, aber hier stimmt's wirklich. Wahrlich ruhig und seltsam schön. Bei den Männern, eine Etage tiefer, ist das ganz anders. Da ist Toilette Geschäft, und das muss schnell gehen. Da wird getrennt, ob nach Geschlecht oder zwischen Deckel und Brille, und gerade deshalb oft danebengeschossen. Das aber ist Lounge, weil ausgestattet und eingeräumt – und damit ungewohnt wohnlich. Sofort wird ihm klar, hier muss gelten: bloß nicht auffallen und nicht mehr dalassen als unbedingt notwendig! Maximal einen zweiten Blick in die Spiegellandschaft wagen, das heißt: nach der Nase nochmal aufs Ganze glotzen. Und dann rein, ins eigentliche Häuschen. Im Inneren: Parfüms, Deodorants und Streichhölzer. Auch hier greift er zu, spritzt erst kräftig in die Luft und weil's gefällt auch gleich auf's Hemd und in seinen Kragen. Dicke Luft, wohlriechend! Trotzdem schnell raus jetzt, ist ja doch zu eng und überdies nervt doch glatt nochmal ein Nasenhaar! Wieder im Vorraum, hängt er vorm Spiegel seiner Wahl und bedient sich nach getaner Arbeit im Seifenparadies. Es gibt Stücke, die in einer Muschelschalenhälfte liegen, klassische Seifenspender und natürlich auch medizinisches, zur echten Desinfektion. Er greift zu einem der wohlgeformten Stücke, einer Banane, weil sie edel aussieht und er sich nicht anders fühlt. Schon wandern ein paar trübe Tropfen langsam schäumend über seine Handrücken ins Waschbecken. Beides, Haare wie Tropfen, geben ein seltsames Bild ab. Sein Besuch hier dauert, weil er das Zupfen und Tröpfeln nicht lassen kann. Denn so, wie das hier geht, mit Vergrößerungsspiegel und Pinzette, so muss das sein! Unten, im Stockwerk tiefer, zupft er mit bloßen Fingern, und sauber sind die nie, weder davor noch danach!
Als er die Toilette verlässt, blickt er in vier ungläubige Gesichter, alle weiblich. Peinlich. »Was macht DER hier«, scheinen sie zu fragen, ohne böse zu gucken. Auf ihrem Stockwerk, in ihrer Abteilung und doch ganz richtig, biegt er sogleich um die rettende nächste Ecke und denkt bei sich: Dort, wo schöne Wimpern klimpern, lässt sich's trefflich Nasenhaare zupfen – und er kam wieder, keine Frage.
