Von fernen Flügen
- moritzweinstock
- 11. Mai 2023
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Nov. 2024
Knete ist ein seltsames Material, aber es eignet sich ganz wunderbar zur Formung verrückter Welten und Wesen. Als Kind hatte ich selten Gelegenheit, damit zu spielen. Knete war in unsere Familie nicht erlaubt, obwohl sie auf andere Weise meist Thema war. Die eigentliche Knete aber hatten andere Eltern und glücklicherweise ließen die nicht nur ihre Kinder damit spielen. So bastelte ich, wenn auch nicht oft, hin und wieder mit der seltsam klebrigen Modelliermasse, erschuf aber zu keinem Zeitpunk so kreatives wie Nick Park, der Macher von Wallace & Gromit. Alles Käse war der erste und einzige Film, den ich von ihm sah und der Eindruck, den er bei mir hinterlassen hatte, war gewaltig. Um ehrlich zu sein: er wirkt bis heute nach! Und das, obwohl ich längst dahinter gekommen bin, dass der Mond nicht aus Käse besteht und eine Reise dorthin nicht mit einfacher Schraub- und Schweißarbeit in der Gartenwerkstatt getan ist. Nein, die Welt ist komplexer und obwohl sie von Knete regiert wird, hat der gefügige Gummi nichts zu melden. Nur in der Fantasie eines Animationskünstlers wird aus Plastilin Gold, formt sich der Mond zu einer schmackhaften Kraterlandschaft, die man mit salzigen Crackern bereisen und fressen kann.

Für uns Menschen jedoch, die Schlaraffenländer nur im Geiste erfinden können, gibt es andere Cracker, die einen auf Reisen schicken. Es ist die Mischung zweier chemischer Substanzen, die mich kürzlich den Sternen so nah brachte, dass ich sie am Bartresen spürte ohne sie sehen zu können. Umringt von Wesen mit breiten Mündern und frechen Fratzen, Gesichter, die ich wenige Minuten vor dem Toilettengang noch als Freunde und Bekannte wahrgenommen hatte, waren jetzt von einer außerirdischer Schönheit, die mir fast ein wenig Angst machte. Mein eigenes Lachen ist zu einem stummen Grinsen gefroren, ich bin glücklich hier zu sein, auch wenn das Hier für kurze Zeit unscharf und fern ist, weil es wackelt und wabert und in seinem Dasein sehr flüchtig erscheint. Doch es gibt Halt! Zwei runde Rumäninnen, ich kann es nicht anders sagen, wurden mir Monde aus Käse. An ihnen darf ich mich laben und den Keks, von dem ich naschte, mit Worten der englischen Sprache bestreichen, die wie Schmelzkäse aus meinem trägen Mundwerk fließt. Kaum eines geraden Ausdrucks fähig, hält unsere Konversation doch erstaunlich lange an, denn die beiden sich liebenden Damen, Lesben wie sie mir stolz und mit einem leidenschaftlichen Kuss bestätigen, scheinen von meiner sinnlosen Synapsenreise ins Nirgendwo nichts zu bemerken. »Cluj-Napoca« stöpsele ich mit größter Mühe hervor, sei eine Stadt in Rumänien, die ich kenne, bereist und lieb gewonnen hatte. Begeisterung bei den Mondfrauen, ein Deutscher in Wien, der nicht nur Italien, Spanien und Frankreich ins Herz geschlossen hat. »I love you«, schwören sie mir da schon, Umarmungen folgen, ja sogar eine Rose schenken sie mir, die ich mit zaghaftem Stolperschritt über den unsagbar unebenen Tanzboden immerhin bis zum DJ befördere, um mich für die Geräusche der letzten Stunde zu bedanken. Nur Sekunden danach folgt auch schon der Abbruch des Erste-Reihe-Stehens, zu unsicher sind die Muskeln meiner Beine, noch herrscht kein Gleichgewicht im sonst so bekannten Gravitationsfeld einer Club-Nacht.
Knete, das seltsame Material meiner Kindheit hat mich wieder. Wo der Körper die Mächte des Rausches erfährt, versagt ihm die Spannung des Alltags. So auch an diesem Abend. Noch vor dem ersten Schritt auf das Tanzparkett war alles in bester Ordnung, die Stimmung ausgelassen, die »Vibes«, wie man sie nennt, gut. Lässiges Geschunkel, ein paar Tanzbewegungen wie in alten Zeiten, House die Musik, die dazu veranlasste. Flüchtiger Kontakt mit ein paar tanzenden Genossinnen, Austausch von Blicken und einfachsten Worten, wie »taugt« und »richtig gut«. Dann die Einladung aufs WC dankend angenommen und im Anschluss erlebt, was oben bereits beschrieben. Je nach Dosierung kann ein solche Reise durchaus von Dauer sein, meine betrug vermutlich kaum mehr als eine Stunde. Nach dem Verlassen der Mondumlaufbahn und dem Wiedereintritt in die keksfreie Erdatmosphäre, beruhigten sich meine Synapsen, kehrte Kraft in die Muskeln zurück, fand ich Halt auf der jetzt wieder glatten Tanzfläche. Die Krater verschwanden und Mut und Wille, die erste Reihe der tanzenden Gesellschaft zu betreten, wurden größer. Sie begannen auch deshalb zu wachsen, weil sich dort jemand aufhielt, deren Bewegungen von solch ätherhafter Leichtigkeit waren, dass sie mir, dem mutigen Kosmonauten von eben erst erlernter rumänischer Freundlichkeit, eine neue Form der Schwerelosigkeit versprachen, die es zu erkunden galt. Der Eintritt in den Kosmos dieser schwungvollen Tänzerin erfolgte problemlos, Platz war vorhanden und der DJ, der jetzt an den Plattentellern wippte, verstand sein schwarzes Scheibenspiel bestens. Die Musik von vorher verlagerte er ein Stockwerk nach unten, es wurde dunkler, obwohl sich die Nacht schon zum Tag formte und der morgen bereits zu dämmern begann.
