Kids auf unerhörter Zugfahrt
- moritzweinstock
- 8. Aug.
- 3 Min. Lesezeit
Da sitzen sie jetzt, trinken billigen Wein und noch billigeren Vodka mit Geschmack. Reden über Drogen und darüber, wer wem in welchen Zuständen wirklich über den Weg traut (was das Anmachen der gegnerischen Freundin betrifft). Auch rauchen sie Vape, blasen also Erdbeersalven in das zum Glück gut klimatisierte Zugabteil, in dem auch ihr ehemaliger Lehrer – vielleicht ein Referendar – sitzt und sich nicht zuständig fühlt, ihnen die Grenzen und Regeln dieses öffentlichen Raumes zu erklären. Nur leise sollen sie sein, dann dürfen sie sich setzen. Und während sie so ihre Halbstarken-Sätze schnalzen und zum nächsten Dorffest reisen, bin ich überlegt zu handeln, etwas zu sagen, ja, den Erwachsenen in diesem Abteil zu geben, weil es sonst keiner tut.
Dabei sitzen da einige, aber sie sind in Arbeit vertieft an diesem Freitagabend, oder blicken demonstrativ weg, ob aus Angst, Scham oder Betroffenheit einer auch durch sie nicht ganz geglückten Erziehung, wer weiß… . Sprachlich ist das Ganze natürlich hochinteressant, auch wenn die Mehrheit der Reisenden wohl eher geneigt wäre zu sagen: unterirdisch. Denn natürlich gibt es einen Tschick in der Runde, wie ihn Herrndorf erfand, einen, der keine Zähne hat, wie ihm sein vermutlich österreichischer Topfdeckelhaarschnitt-Freund vor versammelter Mannschaft in bewusst coolem Habibi-Ton unter die Nase reibt: Bruder, du hast kein Zähne, also laber kein. Wer hat sich da wem angepasst? Die ganze Rasselbande Tschick oder dieser Tschick der Bande? Jedenfalls redet der sprachlich emigrierte Trupp mit seinen beiden Mädchen so, als kämen sie nicht von hier. Nicht aus Kapfenberg, wo sie einstiegen. Ich schließe auf die Musik und den Cloud- oder Gangster-Rap, den sie wahrscheinlich allesamt hören, im Zweifel auch auf TikTok.
Der verbale Schlag ins Gebiss von Tschick mit den wenigen Zähnen sitzt natürlich und trifft ihn tiefer als gewohnt. Dafür kann er Englisch, was er der Gruppe seiner Freunde mit dem erwachsenen und am Laptop arbeitenden Sitznachbarn unter Beweis stellt. Das where are you from geht ihm gut von den Lippen, dafür braucht er keine Zähne, die er natürlich hat, aber das zählt nicht. Denn vereinzelt treibt es den Karies doch sehr dunkel durch sein Maul. Aber das passt ja, denn wieder wirft der Topfdeckel ein, dass er doch erzählen soll, wie er zu seinem guten Englisch gekommen ist, im Knast sei er nämlich schon gewesen, der Tschick. Klar, denke ich, das passt, der Tschick trinkt und schlägt sich eben gern.
Und so sitzt dieses kleine, aufmüpfige Gespann von der sie umgebenden Aura der Unbesiegbarkeit in unserem Abteil und verhält sich kaum anders als Menschen, die zum Fußballspiel oder zum Volksfest fahren, oder den Vatertag mit Leiterwagen und Bierkisten begießen. Denn auch die brechen mit den Regeln des gesitteten Zusammenseins, vapen vielleicht nicht im Zug, aber trinken oft noch deutlich mehr Bier und Wein als diese Kleinen, und reden auch kein Stück gescheiter daher. Deshalb halte ich mich zurück, springe nicht auf wie ein übereifriger Lehrer, der noch die Freizeit dieser sich im Alter der absoluten Unbelehrbarkeit Befindlichen zurechtstutzen will. Stattdessen beobachte ich nur und staune über den jugendlichen Leichtsinn mit all seiner Dreistigkeit und Raumeinnahme, verfolge den Erdbeernebel, wundere mich über die Täuschung meiner Nase und den Geschmack auf meiner Zunge, den er hinterlässt – und erlebe, dass ich tatsächlich Lust auf Erdbeeren bekomme.
Trotzdem würde ich ihnen gern das kleine Dampfwunder aus den Händen reißen und zum Fenster rausschmeißen, aber ich tue es nicht, denke es nur kurz, denn so erzieht man kein Kinder, und die 10 Euro, die ich ihnen als Ersatz bieten müsste, habe ich nicht auf Tasche. Mit einem Geldschein könnte ich eine solche Erwachsenenentgleisung entschuldigen und moralapostolisch hinterherwerfen: Hier, und jetzt kauft euch was gescheites davon, ein Erdbeereis vielleicht, ein Buch oder von mir aus auch zwei Kebabs! Und Schluss wäre mit dieser unerhörten Zugfahrt...