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Stadtgarderobe

  • moritzweinstock
  • 19. Mai 2023
  • 2 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 15. Nov. 2024

Als ich noch unterwegs war, auf Reisen, nur mit einem Rucksack, da war Kleidung zweitrangig. Da spielte es keine Rolle, ob das T-Shirt oder der Pullover einen zweiten Tag in Folge getragen wurde oder eine ganze Woche am Stück. Die Jeans, die eine Jeans, die mich begleitete, lernte den aufrechten Gang, wenn ich sie am Ende langer Tage auszog und neben mich stellte. Sie war steif geworden vom Dreck der Straße, das wenige Waschen tat ihr gut. Sie sagte sich los von ihrer schlaffen, stets frisch gewaschenen Ruhelage über der Stuhllehne eines Wohnungsmöbels und stand stolz neben meinem Zelt als Wächterin der Nacht. Erst am Tag ließ ihre Anspannung nach, dann verschmolzen wir zu einer Einheit aus Schweiß und Stoff und Staub von jetzt und damals. Mag sein, dass das Bild, das wir ergaben, kein sehr schönes war. Der Stadtmensch lehnte uns ab, so viel wussten und verstanden wir. Ich sah es an seinem Blick, den Augen, die mich und meine mich schützende Begleiterin abschätzig von oben nach unten und umgekehrt betrachteten. Ausziehen schienen sich mich zu wollen, zu waschen und in eine Reinigung stecken. Und doch war auch Bewunderung dabei, ein Hauch von, ichwillauchsowenigmüssen. Aber Mensch!, sagte ich mir dann immer im Geiste, du kannst es doch. Tu es doch. Lass' einfach an, wofür du dich heute schon entschieden hast. Reduziere dich auf die Wahl des Morgens und belasse es dabei, vorerst, oder zumindest für ein paar Tage. Du wirst sehen, es ist befreiend, sich nicht täglich im Spiegel betrachten und abwägen zu müssen, ob das Outfit passt. Sag dir, es passt, oder sag es noch nicht einmal – fühle es. Auch ich fühlte es einmal, ich fühlte die krustig gewordenen Fasern auf meinen Beinen und genoss ihre schmutzige Härte. Kleidung ist vorrangig Zweckerfüllung, aber der Zweck eines vollen Kleiderschranks erschließt sich nur dem Stadtmenschen. Er ist es, der sich täglich neu in Schale werfen muss, um zu bestehen. Denn die Blicke seiner Mitstadtmenschen sind entscheidend, sie bewerten ihn nicht nur, sie machen ihn aus; formen ihn, bestärken ihn im Selbstwert oder zerschlagen seine mühsam aufgebaute Sicherheit. Also zieh dich an, Mensch, immer anders und immer frisch! Sonst bist du nichts, nur Dreck in einer Stadt, die am Morgen orange Männer auf die Wache schickt, um sich vom Schmutz der Nacht und ihrer Wandler zu befreien.


Unscharfes Foto einer Wand mit Graffitis vor der eine Reihe Verkehrsschilder steht.

 
 

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