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Ich habe mir den Finger gequetscht und den Kopf leergesoffen. Die Leber schmerzt und drückt an den Brustkorb, weil sie seit zu vielen Stunden zu hart arbeiten muss. Und darum tut auch sonst sehr vieles weh. Der immer gleiche Rausch der letzten Tage hat den schiefen Körper nicht wieder gerade gerückt, nein, er hat ihn noch weiter verbogen. Schräg hängen die Schultern am Gerippe und wo Sonnenstrahlen Wärme spenden könnten, durchleuchten sie mich wie ein Röntgengerät. Jetzt liege ich auf dem Balkon und über allem thront das Geräusch eines nervös pumpenden Herzens. Jeder Schlag erschüttert die müden Knochen, fast kann ich sie klirren hören, zumindest aber zählen kann ich sie, so auffällig blicken sie unter der Haut hervor. Wo übermäßiger Alkoholkonsum anderen Menschen heftige Kilos anhängt, raubt er sie mir, obwohl doch kaum welche zu holen sind. Zweiundsechzig Kilogramm und zweiundsechzig Tage. Die ersten zähle ich, die anderen habe ich gezählt. Gegenwart und Vergangenheit treffen aufeinander und beschreiben keine glorreiche Zukunft. Doch es gibt Hoffnung, denn mit etwas Glück wird der nächste Morgen fröhlichere Farben tragen. Schwarz hat nur jene Nacht gemalt und die liegt jetzt bald lange genug zurück, um sie aus dem Gedächtnis tilgen zu können. Allerdings vergisst man schwer, wenn nicht nur der Kopf, sondern auch dieser Körper an Vergangenes erinnern. Vielleicht wärme ich auch deshalb immer wieder Gedanken auf, die meine Pumpe pumpen lassen. So weiß sie, dass es Arbeit gibt und kein Schlag sinnlos ist. Der eine begründet nämlich den anderen. Und so geht es vorwärts, immer weiter, bis ein fremder Impuls einen neuen Rhythmus vorgibt, auf den ich mich einstellen will.


Mann in Daunenjacke blickt mit finsterer Miene in die Kamera und sitzt im Heck eines Ausflugdampfers.

  • 28. Juni 2023

Es gibt Momente im Leben, da steht der Sinn desselben plötzlich gänzlich in Frage und fliegt so leicht davon, dass es erdrückend ist. Rainer Blaschke befindet sich genau dort. Längst ist ihm der Beruf zur trostlosen Pflicht verkommen und das Montag-bis-Freitag-Sein ein quälender, sich immer wiederholender Prozess aus aufstehen, pinkeln, zähneputzen, duschen, anziehen, hinfahren, hallosagen, nichtserwarten, mahlzeitwünschen, kaffeetrinken, vielkaffeetrinken, heimlichkacken, spülen, streichholzzündeln, verabschieden, heimfahren, aufsperren, lustlosessen und dann: nochnichtmalficken. Ja, die Traurigkeit seines Daseins treibt ihm manchmal ein paar Tränen aus den Augen. Und das, obwohl er erst vergangene Woche Vizemeister bei der Vereinsmeisterschaft des Boxclubs Neuwaldegg wurde. Aber das Gewicht des ganz normalen, hundertfach gelebten Großstadtlebens eines launischen Arbeiters, der vor lauter Trostlosigkeit und einem notorischen schlecht gefüllten Konto selten essen geht und noch seltener Kinos, Bars oder gar Theater, Museen und Konzerte besucht, drückt auch auf Rainer Blaschke. Es drückt, weil es zu schwer für einen Menschen wiegt. Jedoch zu zweit ist er nicht. Telefon und Computer sind ihm die engsten Freunde geworden. »Ding-Dong« tönt es auch heute an seiner Tür. Ein alter Bekannter steht wieder da. Es ist der Essenlieferant, dessen gute Laune vor allem daher rührt, dass Rainer Blaschke stets anzutreffen ist. Seine Zustellungsprojekt ist damit komplett, kein Extraweg musste getan werden, kein Treppenhaus wurde umsonst erklommen – welch Glück für den Lieferanten! Dann ist auch er wieder weg und zurück bleibt ein Karton Pizza. Nicht wichtig, vielleicht schon wichtig, zumindest aber durch Hände gegangen, für die er einmal wichtig war. Teil der Schicht eines anderen eben. So trägt auch er dazu bei, dass die Dinge laufen, wie sie es tun, nämlich aus dem Ruder und hinein in die einsame und doch kollektive Verfettung der Menschheit. Aber was kann der Karton dafür, dass er so schön ist? Und die Pizza erst? Richtig! Genauso wenig wie der Bäcker und sein Ofen! Die Natur hat es nicht anders gewollt und so bekommt sie es auch heute, Pizza ohne Anstrengung. Nur ein paar Scheine musste Rainer Blaschke bemühen und das tat etwas weh. Also hinsetzen und Glotze anschalten. Werbung überall. Sie schreit, nimm das, du Konsument, du Lohnarbeiter, du Tier an einer Melkanlage, Leistungsmensch du. Du brauchst Kraftfutter, Proteine, Kohlenhydrate. Für schöne Fettpolster und geschmeidige Muskelmasse. Du brauchst sie für die ohnehin bequemen Bürostühle. So sitzt es sich besser. Stundenlang, in optimal heruntergekühlten oder ideal beheizten Affenhäusern! Der Sportsender, der sein Konto monatlich um die hübsche und fast runde Summe von 49,90 Euro erleichtert, sollte ihm Fußball und Boxwettkämpfe in höchster Auflösung liefern. Aber das tut er schon lange nicht mehr. Stattdessen zeigt er, was er will und macht gar keine Freude mehr. Eine einzige Verarsche, denkt sich Rainer Blaschke nun schon seit einiger Zeit. Alles nur noch Werbung oder Verarsche, wobei er selbst kaum weiß, wodurch sich die beiden voneinander unterscheiden. Also umschalten, doch bereits der nächste Sender brüllt erbarmungslos weiter: Lass’ Dir einfach alles liefern, Rainer, am besten das ganze Leben, Frei Haus! Nicht einmal schleppen musst du es, das Leben, zumindest nicht bis zur Haustüre. Versprochen, lieber Rainer Blaschke, komm' mit! Nur zu gern ließe er sich einmal das Gewicht von den immermüden Schultern nehmen. Und noch während er dies denkt, ärgert er sich, fährt sich grimmig über den kahlrasierten Kopf, stinkt noch immer vom Training und schreit sogar schlussendlich. Der Fernseher wackelt, weil Rainer Blaschkes Fuß jetzt nervös vorm Bildschirm spielt. Ein Schlag nur, nur ein kräftiger Tritt, wie er ihn gern beim Boxen machen würde, aber er kickt ja nicht. Darf es nicht, muss sich zurückhalten. Nur ein Kick müsste es sein, dann wäre alles vorbei. Dann wäre sie aus, die Glotze – für immer. Und ihr immerselber Müll in immerneuen Farben, hätte für immer ausgestrahlt. Nur Rainer Blaschke wäre dann noch da. Weil er sich weiter ausspucken muss und granteln und schreien muss, in dieser doch nur scheinbar freien Welt; weil er sauer ist und es auch bleiben will. Es ist nicht nur sein Geist, der heute rebelliert, nein, der ganze Körper ist es, von Kopf bis Fuß, vom Herz über den Magen bis tief in den Darm hinein, wo ihm die Scheiße fast entgegenquillt, mit der er sich selbst aufheizt und in Rage spricht. Aber nein, aber nein! Gar nichts will Rainer Blaschke heute fordern vom System, dem Staat, den Firmen, der Gesellschaft oder wem auch immer! Dafür tritt er nur kräftigt und sagt uns im Wahn seiner Schläge: Nehmt euch den Zucker, bedient euch am süßen Geschäft dieser Welt, zerstückelt es, teilt es auf, schiebt es in Bahnen zusammen, verbindet euch darüber und zieht – doch einfach mal die Reißleine! Und dann zieht er sie wirklich, packt die Glotze mit beiden Händen, trägt sie zum Fenster, wuchtet sie über den Rahmen, lässt sie fallen und sich hinterher, aber zurück in den Sessel, als er mit Genugtuung hört, wie sie am Bordstein zerbirst, muss er lachen. Sehen wollte er es nicht mehr, gar nichts wollte er mehr sehen.


Mann in dunklen Klamotten mit Kapuze über dem Kopf geht an einer abgeschlossenen Imbissbude vorbei.

Ein Haiku (japanisch: 俳句) ist ein kurzes, traditionelles Gedicht, meist aus drei Zeilen bestehend, wobei die Silbenregel 5-7-5 oft bestimmend ist. Also fünf Silben in der ersten Zeile, sieben in der zweiten und nochmals fünf Silben in der letzten Zeile. Ich kenne diese Gedichtform selbst noch nicht sehr lange, aber sie bereitet große Freude. Ich darf deshalb dazu anhalten, es selbst einmal damit zu probieren. Hier ein paar meiner Haikus, zur Anregung für den Selbstversuch.


Zigarre schmeckt ihm,

Schaumwein sogar noch viel mehr.

Deshalb radelt er.


Der Wind bläst kräftig.

Volle Segel, Krängung stark.

Hand fest am Steuer.


Blut auf dem Asphalt,

auch viel zerstörtes Metall.

Noch weiß es niemand.


Schön ist die Liebe!

Ich meine, schön kann sie sein.

Nur oft ist sie’s nicht.


Nur Dein fester Blick

haftet auf mir wie Honig,

und schmeckt schrecklich süß.


Ihr Sprechen ist Musik,

sie klingt in seinen Ohren

und verzaubert ihn.


Es scheint die Sonne,

hoch am Himmel – Badetag.

Heut’ werden sie nass.


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